Wo sind die Vögel diesen Winter geblieben?

Haben Sie sich diesen Winter auch gewundert, wo die Vögel geblieben sind, die in anderen Jahren sonst mehr oder weniger in grosser Zahl das Futterhäuschen vor dem Fenster aufgesucht haben?
Die Vogelwarte Sempach kennt das Phänomen der ausbleibenden Vögel. «An den Futterhäuschen zeigt sich momentan fast überall das gleiche Bild», sagt Livio Rey. Der Biologe ist Sprecher der Vogelwarte. Er erhält täglich besorgte Anrufe und Mails aus der ganzen Schweiz. Rey kann keine abschliessende Erklärung liefern, aber eine ganze Reihe von Indizien. «Im Winter ziehen einige einheimische Vögel auf der Suche nach Nahrung über längere Distanzen umher. Manche Populationen fliegen Dutzende von Kilometern dorthin, wo sie gute, natürliche Nahrungsquellen vorfinden», sagt er. Diese Arten sind also nicht so reviergebunden wie während der Brutzeit. Damit sind sie auch auf Zusatznahrung freundlicher Menschen nicht so angewiesen.
Wie in den letzten Jahren war auch dieser Winter bis jetzt alles in allem eher mild, mit wenig Schnee – abgesehen vom kürzlichen Schneefall bis in tiefe Lagen. So finden die Vögel genügend Nahrung in ihrer angestammten Umgebung im Wald oder in Hecken. Zudem war 2020 ein sogenanntes Mastjahr: Buchen warfen besonders viele Buchnüsschen ab, Fichten und Eichen trugen viele Früchte. Auch gab es mehr Beeren als in anderen Jahren. Die Nahrungsverfügbarkeit ist also gross. «Amseln beispielsweise habe ich kürzlich ganz viele gesehen, in Weissdorn und Gemeinem Schneeball, wo sich die Vögel immer noch an den Beeren satt fressen», sagt Christian Rogenmoser, der in der Vogelwarte das Auskunftstelefon bedient. Deshalb besuchen sie die Gärten und Futterstellen in den Siedlungen diese Saison kaum.
Livio Rey weist noch auf einen anderen Effekt hin: «Immer mehr Leute stellen Futterhäuschen in ihre Vorgärten oder hängen Futter auf.» Damit verteilen sich die Vögel auf mehr Futterstellen. «Für die einzelnen Futterhäuschen-Besitzer sieht das dann so aus, als ob es immer weniger Vögel gäbe», sagt Rey.
Das Vogeldichte-Paradox
Was also vom Küchenfenster aus nach Artensterben aussieht, ist es nicht. Kein Vogel, der ans Futterhaus kommt, ist in der Schweiz bedroht. Das Artensterben findet nicht auf dem Fensterbrett statt. Die Fachleute der Vogelwarte weisen auf ein Paradox hin: «Sicher, die Vogeldichte und Zahl der Arten gehen leider an vielen Orten zurück. Es gibt aber viele häufige Vogelarten, deren Bestände stabil sind oder sogar zunehmen», sagt Rogenmoser. Und zu diesen Arten zählen genau jene, die besonders gern die Futterhäuschen besuchen: Finken, Spatzen, Kohlmeisen. Lesen Sie dazu: Politik und Gesellschaft tun zu wenig gegen den Artenschwund (Meinung). «Die häufigen Arten werden tendenziell häufiger, denn sie können sich an den Menschen anpassen», sagt Rey. «Das Bedenkliche ist jedoch, dass die bei uns ohnehin schon seltenen Arten immer seltener werden.» Dazu zählen Bodenbrüter wie die Feldlerche oder Feuchtgebietsarten wie die Bekassine oder der 2006 hierzulande ausgestorbene Grosse Brachvogel. Abnehmende Bestände verzeichnen auch Insektenfresser wie Gartenrotschwanz, Braunkehlchen und Neuntöter. Die Insektenfresser sind jetzt in Afrika, die Feuchtgebietsarten bleiben an Gewässern und fressen Würmer, kleine Krebse und dergleichen. Daher profitiert keine dieser seltenen Arten von der Vogelfütterung.
Landschaft schützen statt Vögel füttern
Das bedeutet auch: Mit Futterhäuschen lässt sich das Artensterben nicht stoppen. «Dafür müssen wir vor allem die Lebensräume der Insektenfresser, Wasservögel und Bodenbrüter schützen», sagt Vogelwarte-Sprecher Rey. Also Feuchtgebiete, Moore, heckenreiche und naturnahe Landwirtschaft. «Und das muss vor allem auf dem politischen Weg geschehen.»
Es ist noch nicht zu spät
Wir alle können uns für die Natur vermehrt einsetzen, so dass auch kommende Generationen noch oder wieder eine intakte Natur vor der Haustür haben. Ihre nächste persönliche Chance haben Sie bei der Abstimmung im kommenden Juni!
(Bericht von Edgar Schuler in der Sonntagszeitung vom 21.02.2021)

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